Zur Kirchweih: Unsere Blutbuche im Gespräch mit einem kleinen Buchensetzling

Setzling: Bist Du aber groß?

Blutbuche: Findest Du?

Setzling: Ich kann gar nicht Deine Spitze sehen. Wie alt bist Du eigentlich?

Blutbuche: Hm, genau kann ich das Dir nicht so genau sagen. Ich weiß nur, dass ich im Herbst 1934, also vor fast 90 Jahren hier als kleines Bäumchen vor der Kirche eingepflanzt worden bin. Könnte sein, dass ich schon 100 Jahre alt bin.

Setzling: 100 Jahre, dann hast Du ja schon viel erlebt.

Blutbuche: Oh ja, am Anfang habe ich noch das Traben der Pferdegespanne gehört. Die Memminger Straße war damals nur geschottert. Was und wer da alles an mir vorbeigezogen ist. Besonders gefreut habe ich mich über Feste, die hier stattgefunden haben. Hochzeitsgesellschaften sind an mir vorbei in die Kirche eingezogen; Kinder habe Ball gespielt; Menschen haben mich mit meinem Blätterdach bestaunt und in meinem Schatten gefeiert. Zu Konfirmationen und Taufen werden an meinem Stamm immer wieder Familienbilder gemacht.

Setzling: Musstest Du auch mal weinen?

Blutbuche: Manchmal schon, wenn ich traurige Menschen gesehen habe, die zum Begräbnisgottesdienst eines verstorbenen Kindes oder einer jungen Mutter gekommen sind. Und dann gab es auch eine Zeit, wo Nation und Führertum angerufen und ein furchtbarer Krieg entzündet wurde. Ich habe heute noch den Geschützdonner über Vöhringen vom April 1945 in den Ohren.

Setzling: Sind das Tattoos, die Du hast?

Blutbuche: Was – Tattoos? Was meinst Du damit?

Setzling: In der Rinde Deines Stammes hat es doch Einkerbungen …

Blutbuche: Ach ja, da haben Menschen mit ihrem Messer Buchstaben und Zeichen in meine Rinde eingeritzt. Hat etwas weggetan. Aber Gott sei Dank sind die Wunden vernarbt.

Setzling: Immer mal wieder sehe ich Äste von Dir auf der Wiese liegen. Wie kommt das denn?

Blutbuche: Stürme gibt es auch bei uns. Dächer können sie abdecken, Bäume knicken und entwurzeln. Aber mein Stamm ist so mächtig und tief verwurzelt, so dass bei mir nur abgestorbene Äste zu Boden fallen.

Setzling: Warum hast Du eigentlich im Winter keine Blätter?
Ab November siehst Du richtig kahl aus.

Blutbuche: Im Winter ist es zu trocken für mein Laubkleid. Mit Blättern würde ich zu viel Wasser verlieren und schließlich absterben.
Aber ist Dir schon aufgefallen, wie sich mein Laubkleid im verändert – im Frühjahr grün und im Sommer lila, bis es schließlich im Herbst orange und dann braun wird.

Setzling: Wie kommt es, dass Du so eine schöne Blätterfarbe jetzt hast?

Blutbuche: Ursprünglich komme ich von einer Rotbuche aus dem Possenwald nahe der Stadt Sondershausen in Thüringen her. Bei diesem einen Baum hatte sich etwas genetisch verändert. Es fehlte ihm ein Enzym, das die normalerweise nur in der Epidermis junger Blätter vorkommenden Anthocyane abbaut. Daher kam es bei diesem Baum zu einer Lilafärbung.

Setzling: Das verstehe ich nicht.

Blutbuche: Einfach gesagt: Ein Rotbuche-Baum hatte vor mehr als 400 Jahren zufälligerweise ein lilafarbiges Laubkleid bekommen. Und von seinem Samen, den Bucheckern, stammen alle Blutbuchen in der ganzen Welt ab, also auch ich hier in Vöhringen.
Und nun noch etwas Interessantes: Du bist ein kleiner Buchensetzling, der von meinem Samen kommt. Du hast nun grüne Blätter. Wahrscheinlich wirst Du eine Rotbuche werden.

Setzling: Dann bekomme ich nicht so schöne lila Blätter wie Du?

Blutbuche: Vermutlich nicht …

Setzling: Wie schade … aber vielleicht komme ich auch als Rotbuche groß heraus.
Wie hast Du es nur geschafft, so groß und so schön zu werden?

Blutbuche: Für das Wachstum braucht es den richtigen Boden und viel Wasser. Die Menschen, die mich damals eingepflanzt hatten, haben genau die richtige Stelle gefunden. Denn unter mir ist nämlich eine Wasserader. Selbst in der Dürre und Hitze des Sommers bekomme ich genügend Wasser.

Setzling: Werde auch ich einmal so groß wie Du?

Blutbuche: Wir werden sehen … Aber in jedem Fall brauchst auch Du die richtige Quelle des Lebens.

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