„Das Gebet eines Demütigen dringt durch die Wolken.“ Predigt zu Sophie Scholls 100. Geburtstag

Tagebücher bergen ganz persönliche Worte, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sind. Aber wenn eine Tagebuchschreiberin nicht mehr am Leben ist, dürfen ihre Worte in unser Gedächtnis genommen werden. So möchte ich euch den Tagebucheintrag einer längst verstorbenen Person in Sachen Gebet aus dem Jahr 1942 vorstellen:

Ich habe mir vorgenommen,
jeden Tag in der Kirche zu beten,
damit Gott mich nicht verlasse.
Ich kenne Gott ja noch gar nicht
und begehe sicher die größten Fehler in meiner Vorstellung von ihm,
aber er wird mir das verzeihen,
wenn ich ihn bitte.
Wenn ich ihn von ganzer Seele lieben kann,
dann werde ich meinen schiefen Blick verlieren.
Wenn ich die Menschen um mich herum sehe,
und auch mich selbst,
dann bekomme ich Ehrfurcht vor dem Menschen,
weil Gott seinetwegen herabgestiegen ist.
Auf der anderen Seite wird mir dies dann immer am unbegreiflichsten.
Ja, was ich am wenigsten an Gott begreife, ist seine Liebe.
Und doch, wüsste ich nicht von ihr!
O, Herr, ich habe es sehr nötig, zu beten, zu bitten.
Ja, das sollte man immer bedenken,
wenn man es mit anderen Menschen zu tun hat,
dass Gott ihretwegen Mensch geworden ist.
Und man fühlt sich selbst zu gut,
zu manchen von ihnen herabzusteigen!

Das sind Worte einer jungen, zwanzigjährigen Kindergärtnerin vom 12. Februar 1942, aufgeschrieben in Blumberg, einer Stadt am Südostrand des Schwarzwaldes. Ihr Name ist uns wohl bekannt. Heute hätte sie ihren 100. Geburtstag gefeiert.

Sophie Scholl begann am 7. Oktober 1941 ihren Kriegshilfsdienst als Kindergärtnerin in einem Kinderhort in Blumberg, den sie dort bis Ende März 1942 ableisten musste. Fern der Heimatstadt Ulm und der Familie war dies für sie eine schwere Zeit. So schreibt sie im November an ihren Bruder Hans: „Ich arbeite hier im Kinderhort, bei Schulkindern, deren Eltern zu 60 Prozent vorbestraft sind, (diese) sind jedoch für einen Vergleich mit meinen Vorgesetzten noch viel zu gut.“

Da scheint sich in dieser Zeit ihre politische Haltung geändert haben. Sophie Scholl galt in ihrer Jugend als begeistertes „Hitlermädel“. Klassenkameradinnen beschrieben die 16-Jährige als „150-prozentige Anhängerin des Nazi-Regimes“. Sie blieb über das achtzehnte Lebensjahr hinaus freiwillig Mitglied im BDM und besuchte weiterhin regelmäßig deren Heimabende. Noch 1941, ein Jahr nach ihrem Abitur, ermunterte sie eine Freundin, es ihr gleichzutun.

Während ihrer Zeit in Blumberg vertieft sich ihr christlicher Glaube. So sucht sie im Beten eine Sprache für Gott zu finden, die das eigene Leben fassen kann. Aber wie kann man überhaupt zu Gott beten? Das ist die Frage, die sich Sophie in einem Tagebucheintrag vom Dezember 1941 stellt:

Wenn ich beten will und überlege mir, zu wem ich bete,
da könnte ich ganz verrückt werden,
da werde ich dann so winzig klein,
ich fürchte mich direkt,
so dass kein anderes Gefühl als das der Furcht aufkommen kann.
Überhaupt fühle ich mich so ohnmächtig,
und ich bin es wohl auch.
Ich kann um nichts anderes beten, als um das Betenkönnen.
Weißt du, wenn ich Gott denke,
da stehe ich da wie ganz mit Blindheit geschlagen,
ich kann gar nichts tun.
Ich habe keine, keine Ahnung von Gott,
kein Verhältnis zu ihm.
Nur eben, dass ich das weiß.
Und da hilft wohl nichts anderes als Beten.
Beten.

Ihrem Verlobter Fritz Hartnagel, Offizier in Stalingrad, schreibt Sophie am 18. November 1942 aus München, wo sie seit Mai Biologie und Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität studierte:

Gegen die Dürre des Herzens hilft nur das Gebet,
und sei es noch so arm und klein. […]
Wir müssen beten, und für einander beten,
und wärest Du hier, ich wollte die Hände mit Dir falten,
denn wir sind arme Kinder, schwache Sünder.
O Fritz, wenn ich Dir jetzt nichts anderes schreiben kann, […]
dann bloß deshalb, weil ich Angst in mir habe
und nichts als Angst und mich nur nach dem sehne,
der mir diese Angst abnimmt.
Ich bin Gott noch so ferne,
dass ich ihn nicht einmal beim Gebet spüre.
Ja, manchmal, wenn ich den Namen Gottes ausspreche,
will ich in ein Nichts versinken.
Das ist nicht etwa schrecklich, oder schwindelerregend,
es ist gar nichts – und das ist noch viel entsetzlicher.
Doch hilft dagegen nur das Gebet,
und wenn in mir noch so viele Teufel rasen,
ich will mich an das Seil klammern,
das mir Gott in Jesus Christus zugeworfen hat,
und wenn ich es nicht mehr in meinen erstarrten Händen fühle.

Mit ihren Betversuchen ist Sophie Scholl wohl dem nahegekommen, was wir aus dem Buch Jesus Sirach gehört haben:

Wer Gott dient,
den nimmt er mit Wohlgefallen an,
und sein Gebet reicht bis in die Wolken.
Das Gebet eines Demütigen dringt durch die Wolken,
doch bis es dort ist, bleibt er ohne Trost,
und er lässt nicht nach,
bis der Höchste sich seiner annimmt
und den Gerechten ihr Recht zuspricht und Gericht hält.

(Jesus Sirach 35,20-22)

Betversuche – gerade da, wo sie nicht selbstsicher sind, wo auch Zweifel zur Sprache kommen – reichen bis in die Wolken. „Das Gebet eines Demütigen dringt durch die Wolken.“ Aber bis die eigenen Worte bei Gott ankommen und ich seine Antwort erfahre, braucht es Zeit. In der Zeit des Betens bin ich noch nicht bei Trost.

Aber das können wir wohl von Sophie Scholl lernen – im Beten nicht aufgeben. So wie es ja bei Jesus Sirach heißt: Der Beter „lässt nicht nach, bis der Höchste sich seiner annimmt und den Gerechten ihr Recht zuspricht und Gericht hält.

Bis Gott das Unheil zurechtrückt, ist Geduld gefordert. Ich brauche dazu einen Halt, woran ich mich auch in meinen Zweifeln festmachen kann. Sophie Scholl hat ihn für uns gefunden, wenn sie Fritz Hartnagel schreibt:

Ich will mich an das Seil klammern,
das mir Gott in Jesus Christus zugeworfen hat,
und wenn ich es nicht mehr in meinen erstarrten Händen fühle.

Ja, auch ich will mich an das Seil klammern, das mir Gott in Jesus Christus zugeworfen hat.

Amen.

Jochen Teuffel

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