Am gestrigen Sonntag hat Helmut Haas im Rahmen des WegweiserGottesdienstes zum Thema „Gnade dir Gott – oder doch lieber Gnade vor Recht ergehen lassen?“ gepredigt. Hier die Textfassung:
Manchmal drohen wir vielleicht:
Wenn du dies oder jenes tust oder auch nicht tust, dann Gnade dir Gott.
Und manchmal, da lassen wir wiederum Gnade vor Recht ergehen.
Wir nehmen das Wort Gnade immer mal wieder in den Mund – sei es in Sprichwörtern, in Redewendungen oder bei Androhungen.
Wir lesen oder hören dieses Wort Gnade in Bibelversen – über 300mal in der Bibel, vom 1. Buch Mose bis zur Offenbarung. Und wir singen es in Liedern im Gottesdienst.
Aber was verstehen wir eigentlich unter Gnade?
Und welche Rolle spielt Gnade in unserem Leben?
Bedeutung von Gnade im säkularen Rechtssystem
Gnade beschreibt einen Begriff aus dem Rechtswesen.
Es geht um die Befugnis, im Einzelfall, eine rechtskräftige Strafe ganz oder teilweise zu erlassen. Die Strafe kann aber auch umgewandelt oder ihre Vollstreckung ausgesetzt werden.
Eine Begnadigung ist nicht zu verwechseln mit einer Amnestie. Sie betrifft immer eine Vielzahl von Personen und erfolgt aufgrund eines Gesetzes bzw. Erlasses.
Eine Begnadigung betrifft immer eine Einzelperson.
Begnadigung und Amnestie haben aber eines gemeinsam:
sie erlassen die verhängte Strafe, und nur diese, ohne die betreffende Personen zu entschuldigen – frei zu sprechen.
Die Strafe wird erlassen, aber die Schuld bleibt bestehen.
Eine Begnadigung bedeutet deshalb keinen Freispruch.
- Ein kurzer Blick in die säkulare Rechtsgeschichte
Im römischen Reich war ein Begnadigungsrecht – zumindest in Friedenszeiten – nicht vorgesehen.
Im Mittelalter konnte ein Strafrichter entscheiden, ob er das Gerichtsverfahren nach dem geltenden Recht durchführen oder Gnade vor Recht ergehen lassen wollte. Im letzteren Fall war er frei, von der Verhängung einer Strafe abzusehen.
Mit der Zentralisierung politischer Macht in der Hand von Landesfürsten lag das Recht, Begnadigungen auszusprechen, ausschließlich beim Landesherrn und wurde mit der fürstlichen Souveränität begründet.
Die Aufklärung verwarf diesen Gedanken der Gnade als Ausdruck der Willkür und Rechtslosigkeit. Das Begnadigungsrecht wurde zwar beibehalten, dafür aber gesetzlich streng geregelt.
In der Weimarer Republik übte der vom Volk direkt gewählt und demokratisch legitimierte Reichspräsident das Begnadigungsrecht aus.
In Artikel 60 unseres Grundgesetzes ist die Befugnis Begnadigungen auszusprechen geregelt. Sie obliegt dem Bundespräsidenten.
Wir sehen heutzutage auch politisch motivierte Begnadigungen. Beispielsweise hat Trump nach seinem Amtsantritt die Verurteilten im Zusammenhang mit dem Sturm auf das Kapitol vor 4 Jahren begnadigt. Schließlich sind es seine Fans und Gefolgsleute.
Wie bereits gesagt, ist aber eine Begnadigung kein Freispruch – auch wenn Trump das vielleicht anders sieht. Zwar wird bei einer Begnadigung die Strafe erlassen, reduziert oder umgewandelt, die Schuldfrage aber bleibt bestehen. Der Täter wird nicht entschuldigt.
Schuld ist mit einer Begnadigung nicht vergeben.
Wie verhält sich Gnade im biblischen Kontext
Gnade wird dem Menschen von Gott ohne Vorbedingungen entgegengebracht.
Gnade steht im NT in engem Zusammenhang mit dem Erlösungswerk Jesu.
Gnade, die Gott den Menschen ohne Vorleistungen schenkt, bildet den Kern der christlichen Botschaft.
Gnade im Alten Testament (AT)
Zwei im AT vorkommenden hebräischen Worte werden in deutschen Bibelausgaben mit Gnade übersetzt.
Dies sind:
ḥen – Gunst, Zuneigung, Freundlichkeit, Anmut, Schönheit
und
ḥesed – Güte, Liebe, Wohlwollen, Barmherzigkeit
Beispiele :
Die erste Erwähnung erfolgt im Rahmen der Erzählung über die Sintflut in 1. Mose 6:
Aber Noah fand Gnade vor dem HERRN.
Noah fand Gunst, Wohlwollen, Barmherzigkeit, angesichts des bevorstehenden Gerichts.
In 1. Mose 33 bei der Begegnung zwischen Jakob und Esau heißt es:
Jakob antwortete Esau: „Lass mich nur Gnade vor meinem Herrn finden.“
Jakob wollte, dass Esau ihm gegenüber freundlich gesinnt sei.
In 2. Mose 33 bittet Mose Gott:
Hab ich denn Gnade vor deinen Augen gefunden, so lass mich deinen Weg wissen.
Mose appelliert an das Wohlwollen Gottes ihm gegenüber.
Gnade im Neuen Testament (NT)
Der entsprechende Begriff im NT ist das griechische Wort cháris
Dieses griechische Wort kann mit den Begriffen Anmut und Lieblichkeit, aber auch Gunst, Wohlwollen und gnädige Fürsorge wiedergegeben werden.
Am häufigsten kommt dieser Begriff im NT in den Briefen des Apostels Paulus vor.
Hauptsächlich im Römerbrief schreibt er ausführlich über sein Verständnis von Gnade. Dabei geht es vorrangig um die Frage nach der Rechtfertigung vor Gott. Erst durch Christi freiwilliges Opfer am Kreuz wurde die Voraussetzung geschaffen, dass Gott dem Menschen Gnade und Erbarmen schenken konnte. Gnade, die Gott ohne Anspruch und Verdienst des Menschen schenkt, wird zur Grundvoraussetzung der Rechtfertigung vor Gott.
Das war für Luther der entscheidende Anstoß in der Reformation. Er bekam ein ganz neues Verständnis der Rechtfertigung, als er die Vorlesung über den Römerbrief hielt. Die Stellvertretung Christi ist ihr zentraler Kern. Allein aus Gnade (Barmherzigkeit) wird dem an Jesus Glaubenden um Christi willen die Sünde nicht zugerechnet, sondern die Gerechtigkeit Christi als eigene angerechnet. Durch die Annahme des Evangeliums von der Heilstat Christi, die allein aus Gnade geschehen ist, erfolgt die Rechtfertigung allein durch den Glauben.
Das ist mehr als Begnadigung im strafrechtlichen Sinne. Es geht nicht um den Erlass der Strafe, sondern um den Erlass der Schuld.
Schauen wir uns das im Römerbrief genauer an – Römerbrief, Kapitel 3:
Wie ist es denn nun?
Ich habe ja jetzt den Beweis erbracht, dass alle schuldig sind und dass alle unter der Herrschaft der Sünde stehen, genau wie es in der Schrift heißt:
„Keiner ist gerecht, auch nicht einer.
Keiner ist klug, keiner fragt nach Gott.
Alle sind vom richtigen Weg abgewichen,
keinen Einzigen kann Gott noch gebrauchen.
Keiner handelt so, wie es gut wäre, nicht ein Einziger.“
Die ganze Welt ist vor Gott als schuldig erwiesen.
Denn auch durch das Befolgen von Gesetzesvorschriften steht kein Mensch vor Gott gerecht da. Doch jetzt hat Gott seine Gerechtigkeit sichtbar werden lassen.
Es ist eine Gerechtigkeit, deren Grundlage der Glaube an Jesus Christus ist und die allen zugute kommt, die glauben.
Dass sie für gerecht erklärt werden, beruht auf seiner Gnade.
Es ist sein freies Geschenk aufgrund der Erlösung durch Jesus Christus.
Durch sein Blut, das er vergossen hat, ist die Sühne geschehen, und durch den Glauben kommt sie uns zugute.
Wir gehen davon aus, dass man aufgrund des Glaubens für gerecht erklärt wird, und zwar unabhängig von Leistungen.
Paulus ergänzt in Römer 5:
…seine Gnade hingegen, die Antwort auf zahllose Verfehlungen, führt zum Freispruch.
Es geht bei diesem Text nicht um Begnadigung im strafrechtlichen Sinn, sondern um Freispruch. Es geht nicht nur um den Erlass der Strafe, sondern um die Vergebung der Schuld.
Das ist nochmals eine ganz andere Nummer.
Paulus stellt zu Beginn unseres Textes klar heraus, dass keiner – ohne Ausnahme – vor Gott gerecht ist. Das Ergebnis dieser Analyse ist schonungslos, ja gnadenlos. Sie beschönigt nichts, kehrt nichts unter den Teppich, entschuldigt nichts.
Und Paulus stellt klar, dass ich ein noch so vorbildliches Leben führen kann. Ich kann aber dadurch keine Gerechtigkeit vor Gott erlangen. Wir müssen uns im Klaren darüber sein, dass wir hoffnungslos verloren und allein auf seine Gnade angewiesen sind. Nicht nur auf den Erlass der Strafe, sondern auf Vergebung der Schuld. Denn nur dann sind wir gerecht vor Gott und können in seine Gegenwart treten.
Paulus zeigt weiter auf, dass wir vor Gott nur dann gerecht werden können, wenn wir unser Vertrauen ausschließlich auf Jesus setzen und seinen Kreuzestod für die Vergebung unserer Schuld und Sünde in Anspruch nehmen. Denn wir können aus eigener Leistung nichts dazu beitragen. Wir können nichts aus eigener Leistung erreichen, sondern müssen im Glauben an Jesus Christus – den er in uns wirkt – auf die Gnade Gottes vertrauen. Auch unser Glaube ist keine menschliche Errungenschaft, keine eigene Tugend oder gar eine eigene Leistung, sondern Gnade.
Uns selbstbestimmte Wesen stört, dass wir dem Wohlwollen einer höheren Macht ausgeliefert sind. Wir sind es gewohnt, uns allein auf unsere eigenen Erfolge zu verlassen. In unserem Denken von Leistung und Gegenleistung vergessen wir schnell, dass Gott uns mit dem Angebot seiner Gnade und Barmherzigkeit ein riesiges Geschenk macht. Ein Geschenk, das wir nur dankbar annehmen müssten. Das Problem ist nur, dass wir uns sehr ungern etwas schenken lassen ohne eine Gegenleistung zu erbringen.
Auch neigen wir Menschen leider dazu, den Weg des geringsten Widerstands zu gehen. Schließlich ist die Gnade ja so mächtig, dass sie alles wieder in Ordnung bringen kann. Dann können wir ja alles beim alten lassen und brauchen uns nicht zu ändern bzw. verändern zu lassen.
Dietrich Bonhoeffer nennt diesen Weg die „billige Gnade“.
Ich möchte ihn im folgenden zitieren:
Das sei ja gerade das Wesen der Gnade, dass die Rechnung im voraus für alle Zeit beglichen ist. Auf die gezahlte Rechnung hin ist alles umsonst zu haben.
Billige Gnade ist die Gnade, die wir mit uns selbst haben.
Sie ist Gnade ohne Nachfolge, Gnade ohne Kreuz, Gnade ohne den lebendigen, Mensch gewordenen Jesus Christus.
Weil Gnade doch alles allein tut, darum kann alles beim alten bleiben. Es ist doch unser Tun umsonst. Es lebe also auch der Christ wie die Welt, er stelle sich der Welt in allen Dingen gleich und beginne ja nicht unter der Gnade ein anderes Leben zu führen als unter der Sünde. Ich bleibe daher in meiner bürgerlich-weltlichen Existenz wie bisher, es bleibt alles beim alten, und ich darf sicher sein, dass mich die Gnade Gottes bedeckt.
Die billige Gnade ruft uns nicht in die Nachfolge, sondern in den Ungehorsam.
„Weil Gottes Gnade doch alles allein tut, darum kann bei mir alles beim alten bleiben“, schreibt Bonhoeffer provozierend.
Stehen wir nicht auch in der Gefahr so zu denken?
Wenn wir aber die Worte Jesu in den Evangelien lesen und verinnerlichen, dann erkennen wir, dass Jesus von uns ein radikales Umdenken einfordert. Nicht nur ein bisschen fromm, sondern konsequent befolgen, wozu Jesus uns auffordert.
„Wer meine Wort nicht nur hört, sondern befolgt, der ist mein Nachfolger.“, so ermahnt er seine Jünger und damit auch uns – Sie und mich.
Weiter gibt Bonhoeffer zu bedenken:
Unendlich groß sind die aufgebrachten Kosten.
Teuer ist die Gnade vor allem darum, weil sie Gott teuer gewesen ist, weil sie Gott das Leben seines Sohnes gekostet hat – „ihr seid teuer erkauft“ –, und weil uns nicht billig sein kann, was Gott teuer ist.
Gnade ist sie vor allem darum, weil Gott sein Sohn nicht zu teuer war für unser Leben, sondern ihn für uns hingab.
Teure Gnade ist Menschwerdung Gottes.
Gott hat es unendlich viel gekostet. Gott ist Mensch geworden in Jesus Christus. Das haben wir erst kürzlich an Weihnachten gefeiert.
Gott hat es das Leben seines geliebten Sohnes Jesus Christus gekostet. Das bedenken wir in wenigen Wochen an Karfreitag.
Was machen wir daraus?
Es ist eine teure Gnade, die wir nicht billig verramschen sollten – weder für uns selbst, noch für andere.
Wir sind teuer erkauft und können nichts aus eigener Leistung beitragen. Die Rechnung ist bezahlt.
Wie groß ist angesichts dessen unsere Dankbarkeit?
Paulus weist im Römerbrief (Römer 11) nochmals darauf hin:
Wenn das nun aber aus Gnade geschah, dann geschah es nicht aufgrund von irgendwelchen Leistungen; sonst wäre ja Gnade keine Gnade mehr.
Und Paulus folgert daraus wenige Verse später (Römer 12):
Ich rufe daher aufgrund der Vollmacht, die Gott mir in seiner Gnade gegeben hat, jeden Einzelnen von euch zu nüchterner Selbsteinschätzung auf.
Paulus ruft nicht nur damals die Mitglieder der Gemeinde in Rom zu nüchternen Selbsteinschätzung auf, sondern auch uns heute – Sie und mich. Zur nüchternen Selbsteinschätzung im Lichte der Bibel, im Lichte der Briefe des Apostel Paulus, vor allen Dingen aber im Lichte der Worte Jesu, die uns in den Evangelien überliefert sind.
Wenn wir aus der Gnade Gottes keine billige Gnade machen wollen, dann müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass dies nur durch konsequente Nachfolge erfolgen kann. Nicht nur ein bisschen, sondern konsequent. Wir sind teuer erkauft, leben wir auch entsprechend. Aus Dankbarkeit, nicht um des Verdienstes Willen und nicht als Gegenleistung Gott gegenüber.
Entsprechend der Jahreslosung 2025 können Sie gerne das von mir Gesagte anhand der Schrift prüfen. Das Gute aber sollten Sie behalten:
Unser Gott ist ein gnädiger Gott. Ein Gott der uns liebt, es gut mit uns meint, barmherzig ist, uns unsere Schuld vergibt und seine Gnade sich hat sehr viel kosten lassen.
Nehmen wir es dankbar an und folgen Jesus konsequent nach.
Das wünsche ich uns.
Amen