Ulrich Hoffmanns Predigt zum Vierten Gebot im Rahmen der Predigtreihe „Zehn Gebote entfaltet“

Ulrich Hoffmann, Präsident des Familienbundes der Katholiken sowie Ehe- und Familienseelsorger, hat heute an Buß- und Bettag in der Martin-Luther-Kirche in Vöhringen eine nachlesenswerte Predigt zum Vierten Gebot „Du sollst deinen Vater und Mutter ehren“ gehalten:

Eltern, liebe Gemeinde, hat jeder. Man muss nicht verheiratet sein, keine eigenen Kinder haben, auch Geschwister haben nicht alle. Vater und Mutter aber hat jeder Mensch. Das vierte Gebot richtet sich darum an alle. Das war damals so, im alten Israel, und das ist auch heute nicht anders. Das Gebot, Vater und Mutter zu ehren, gehört zum eisernen Bestand der Worte, die Israel mitgegeben wurden. Nicht zufällig werden sie zweimal genannt, nicht zufällig geschieht das in ganz besonderen Situationen:

Beim ersten Mal steht das Volk nach der Befreiung aus Ägypten und der Wanderung durch die Wüste vor Mose am Berg Sinai und erhält dort diejenigen Gebote, die den Bund mit Gott begründen. Diese Worte, so lautet die Botschaft, sind die Weisungen, auf denen der Bestand des Volkes, sein Wohlergehen und seine weitere Existenz beruhen. Es ist der Maßstab, an dem sich Israel orientieren, die Weisung, mit der es ein Leben führen soll, das seiner Gemeinschaft ein menschliches Antlitz gibt. Gott ehren und Achtung voreinander haben stehen im Zentrum.

Die zweite Situation ist der Moment, in dem Israel sich anschickt, in das Land zu ziehen, das Gott ihm verheißen hat. Unmittelbar vor dem Übertritt über den Jordan legt Mose dem Volk noch einmal die Worte vor, aus denen das Volk leben soll in dem Land, das Gott ihm geben wird.

Zwei grundlegende Situationen also sind es, in denen das Volk Israel im Alten Testament die Weisungen Gottes erhält. Die zehn Gebote stehen dabei im Zentrum, als „Grundgesetz“ gewissermaßen, auf dem alles andere beruht, was dann noch folgt. Damit ist nicht weniger gesagt als dass die Existenz des Volkes, sein Wohlergehen und sein Fortbestand, daran hängen, sich an Weisungen und Werten zu orientieren.

Das Vierte Gebot hat unter den zehn Geboten eine besondere Stellung. Es ist das erste, das sich auf das Verhältnis der Menschen untereinander richtet. Die drei vorangegangenen waren dagegen auf das Verhältnis zu Gott bezogen: Gott fürchten, lieben und vertrauen, seinen Namen nicht missbrauchen, den Feiertag heiligen. Das Gebot, Vater und Mutter zu ehren, steht dagegen als Eröffnung derjenigen Gebote, die das Leben unter den Menschen regeln. Warum ist das so?

Der biblische Text gibt eine eigene Begründung, und die heißt so: „Du sollst Vater und Mutter ehren, auf dass du lange lebst und es dir wohlgehe in dem Land, das der Herr, dein Gott, dir geben wird.“ (Deuteronomium 5,16) Unser Wohlergehen hängt demzufolge nicht zuletzt daran, welche Ehre wir unseren Eltern entgegenbringen.

Solidarität, Respekt, Sensibilität – damit lässt sich umschreiben, was das Gebot, die Eltern zu ehren, von uns erwartet. Es schreibt keine innige Beziehung zwischen Eltern und Kindern vor, erwartet nicht, dass Töchter ihre Väter und Mütter ihre Söhne lieben, mit ihnen bis ins hohe Alter zusammenleben oder sie mindestens einmal im Monat besuchen. All das ist gut und wertvoll, und man kann Kinder, die solche Eltern und Eltern, die solche Kinder haben, nur beglückwünschen.

Nicht darauf aber zielt das biblische Gebot. Es legt den Finger vielmehr darauf, dass Solidarität mehr und anderes ist als die Regelung finanzieller Fragen, Respekt mehr und anderes als die Frage, was ich selbst davon habe, Sensibilität mehr und anderes als die Frage, was ich meinen Eltern schuldig bin. Die „Ehre“, von der der biblische Text spricht, meint die Achtung.

Als Ehe-, Familien- und Lebensberater ist mir ein Aspekt besonders wichtig: so wie das Gebot formuliert, brauchen nicht in erster Linie die Eltern unsere Ehre, unsere Achtung. Nein, wir selber brauchen diese Haltung des Respekts vor unseren Eltern, vor unserer Sippe, vor unseren Familiengeschichten, vor den Wurzeln, aus denen wir kommen.

Doch es gibt erwachsene Kinder, die sich damit schwer tun. Sie erlebten Lieblosigkeit, mangelnde Fürsorge, fehlende Wertschätzung und sehen als Erwachsene keinen anderen Weg, als den Kontakt zu den Eltern abzubrechen. Es scheint der einzige Weg zu sein, um sich vor verletzenden Mustern in der Familie zu schützen.

Manche Kinder sind durch Erfahrungen in belastenden Elternhäusern so traumatisiert, dass sie gar nicht in der Lage sind, so etwas wie Ehrfurcht, Anerkennung, Respekt den Eltern entgegen zu bringen. Wie soll ich denn meinen Vater oder meine Mutter respektieren, wenn ich missbraucht werde?

Es geht ganz zentral darum, dass solches Leid wahrgenommen wird. Und nicht abgewertet wird durch nachträgliche Rechthaberei oder irgendwelche Relativierung. Es ist nötig, das eigene Leid auszusprechen und es als Motor für eine Änderung in der Einstellung und im Verhalten zu nutzen. Das gelingt manchmal, aber nicht immer. Die Klärung irgendeiner „Schuldfrage“ ist dabei wenig hilfreich. Vielmehr geht der Weg – noch einmal! – über das Anerkennen von Leid.

So ist einer der wichtigsten Schlüsselsätze von Eltern an ihre Kinder: „Ich habe dir weh getan, und das tut mir leid.“ Und von Kindern an ihre Eltern: „es steht mir nicht zu, euch zu beurteilen – ich bin nur das Kind. Für das, was geschehen ist, was ihr mir angetan habt, kann ich die Verantwortung nicht übernehmen – ich bin nur das Kind – die Verantwortung lasse ich euch, voller Respekt!“

Wenn ein solcher heilender Prozess gelingt – geschieht Aussöhnung und wächst Respekt vor den eigenen Wurzeln: denn nur wer seine Wurzeln kennt, kann seine Zukunft aktiv gestalten und muss nicht wiederholen, was an Leidvollem die Familiengeschichte zuvor vielleicht mitgeprägt hat. Wenn wir selber diese Achtung vor unserer Familiengeschichte nicht aufbringen könnten, würden wir uns selber abschneiden von den Wurzeln, auf denen wir stehen.

Wie oft erlebe ich, dass Kinder ihre Eltern abwerten: wir hätten das ja alles viel besser gemacht als ihr und zeigen euch jetzt mal, wie es richtig geht: die Kinder besser und liebevoller erziehen, den Betrieb viel erfolgreicher führen, und so weiter und so weiter. Eine solche Haltung schreibt unheilvolle Familiengeschichten fort und bildet eine schwere Hypothek für eine bessere Zukunft.

Es ist dagegen eine Gemeinschaft mit menschlichem Antlitz, die das biblische Gebot, Vater und Mutter zu ehren, uns nahelegt. Es sind Grundlagen wie diese, die zu einem gelingenden Leben führen, die wir uns darum immer wieder ins Gedächtnis rufen müssen, die wir nicht vergessen dürfen, wenn wir darüber nachdenken, wie die Gesellschaft aussehen soll, in der wir leben wollen.

Über alle Brüche, alle Ambivalenzen des Lebens und alle Enttäuschungen hinweg helfen sie uns, nicht aus den Augen zu verlieren, was Menschsein heißt und was uns Orientierung gibt in der Relativität der Kulturen und ihrer Werte.

Das biblische Gebot ist aber nicht einfach ein allgemeiner Grundsatz. Es gründet vielmehr darauf, dass Gott seinen Bund mit Israel geschlossen, ihm seinen Schutz und seine Hilfe zugesagt hat. Man kann das Gebot, Vater und Mutter zu ehren, auch als lebensdienlich erkennen, ohne Christ oder Jude zu sein. Aber der Glaube an den Gott Israels, den die Bibel bezeugt und der sich nach christlichem Glauben in Jesus Christus offenbart hat, gibt diesem Gebot wie auch den anderen, eine eigene Begründung. Diese Begründung heißt: an Gott zu glauben bedeutet, einen Grund zu haben, auf dem man steht, eine Hoffnung, zu der man Zuflucht nimmt, ein Vertrauen, das unerschütterlich ist.

Auf einer solchen Basis lässt sich das Vertrauen gründen, dass ein Leben nach den Weisungen Gottes gut ist und heilvoll. Wegweiser zum Leben wollen diese Gebote sein, nicht Vorschriften oder Zwänge. Lesen wir sie so, haben wir verstanden, was sie sagen wollen, dem Volk Israel damals und auch uns heute. Amen.

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