Simon Menths Predigt über die Seligpreisungen beim Reformationsgottesdienst am 31. Oktober in der Martin-Luther-Kirche in Vöhringen

Heute abend hat in unserem Gottesdienst zum Reformationsgedächtnis Simon Menth, katholische Diplomtheologe und Referent des Oberbürgermeisters der Stadt Biberach, in nachlesenswerter Weise über die Seligpreisungen Jesu mit besonderem Bezug auf Alfred Delp gepredigt.

Predigt über die Seligpreisungen Matthäus 5,1-10

Liebe Schwester und Brüder in Christus,

ich bin heute aus Oberschwaben angereist – und viele von Ihnen wissen das sicher: das schwäbische Oberland ist ein katholisches Bollwerk in Baden-Württemberg. Bis auf Biberach an der Riß, wo ich wohne und tätig bin übrigens: Unsere Stadtpfarrkirche wird seit 1548 simultan genutzt – ein ökumenischer Hotspot im tief katholischen Territorium quasi. Es spricht für Ihren Mut als Gemeinde, dass Sie heute, an diesem Tag einen Katholiken auf die Kanzel lassen…

Aber: So paradox das vielleicht auch klingt: Ich glaube, dass sich dieser Tag heute eigentlich ideal anbietet für einen ökumenischen Brückenschlag. Denn ich bin zwar kein ausgewiesener Experte für die Feinheiten der lutherischen Reformation. Da sind Sie bei Ihrem Pfarrer deutlich besser aufgehoben. Aber eines hat mich an Luther und seiner Theologie immer fasziniert: Er stellt die wirklich wesentlichen Fragen. Er schält quasi alles ab, was nicht wesentlich scheint, was sich über die Jahrhunderte an teils verzerrender Patina angesammelt hat. Und übrig bleibt ein radikal existentieller Glaube. Wollte man das alles unter eine Leitfrage stellen, würde die vielleicht heißen: Und was bedeutet das alles FÜR MICH? Im Theologiestudium war das immer mein Lacmus-Test am Ende eines Semesters beim Lernen auf die Prüfungen… mit unterschiedlichen Ergebnissen.

Aber ich glaube, dass genau diese radikal existentiell zugespitzte Theologie heute aktueller denn je ist. Und sie ist ökumenisch. Denn viele, die heute mit dem Evangelium und mit den Kirchen, die es verkünden – oder verkünden sollten – nicht mehr viel anfangen können, geht es ja nicht um theologische Spitzfindigkeiten und um den vornehmen Streit der theologisch Gelehrten. Sondern es geht um diese eine Frage: Was bedeutet das alles für. Eine Frage mit hohem ökumenischen und missionarischem Potential also.

Einen Ort, der dieses ökumenische Potential ausstrahlt, durfte ich dieses Jahr besuchen. Biberach an der Riß, wo ich beruflich tätig bin, hat eine Partnerstadt in Niederschlesien, Schweidnitz. Ich war dort in den letzten beiden Jahren häufiger. Nur 10 Kilometer von Schweidnitz entfernt liegt ein wichtiger Erinnerungsort der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts: Kreisau, der Ort also, der dem Kreisauer Kreis seinen Namen gegeben hat. Dort, auf dem Anwesen der Familie von Moltke, traf sich eine Widerstandsgruppe, um über ein neues Deutschland nach dem erhofften Ende des NS-Terrors nachzudenken. Die meisten von ihnen mit christlichem Hintergrund – in ökumenischer Verbundenheit. Konfessionelle Unterschiede spielten angesichts dessen, was von deutschem Boden ausging, keine gewichtige Rolle mehr. Das Verbindende, das Wesentliche, war deutlich stärker gewichtet. Falls Sie einmal in Polen unterwegs sein sollten, kann ich Ihnen einen Abstecher nach Kreisau nur empfehlen – der Ort hat eine besondere Ausstrahlung. Einer von denen, die sich dort trafen, war der Jesuitenpater Alfred Delp. Für mich einer der beeindruckendsten Glaubenszeugen des 20. Jahrhunderts. Und übrigens wieder mit ökumenischem Potential – die Mutter katholisch, der Vater evangelisch – 1907, als Delp geboren wurde, sicher keine ganz einfache Situation…

Alfred Delp war wohl das, was man einen Charakterschädel nennt; seine Mitbrüder im Orden beschreiben ihn als „schwieriger Charakter“: aufbrausend, rechthaberisch, arrogant, „intellektuell gefährlich“… also kein ganz angepasster und auch nicht der ideale katholische Priesteramtskandidat – zu kritisch… Aber das darf man von Menschen auch nicht erwarten, die sich im Widerstand gegen das Dritte Reich engagierten, nehme ich an. Wahrscheinlich brauchte es dafür eine gewisse grundlegende Widerborstigkeit…

Von Alfred Delp ist eine Predigt zum katholischen Fest Allerheiligen im Jahr 1941 überliefert, das wir Katholiken morgen feiern. Dabei hören wir in jedem Jahr den heutigen Predigttext aus dem Matthäusevangelium – die Seligpreisungen. Delp legt diese Seligpreisungen in recht wenigen Sätzen wie folgt aus: 

„Wenn wir hören `selig seid ihr`, dann ist das immer gebunden an eine Verheißung, an eine Bewährung: Wenn ihr Hunger und Durst habt … Wenn ihr Verfolgung leidet … Wenn ihr aushaltet … Wenn ihr in Ordnung bleibt … Wenn ihr das Leben durchhaltet, so wie es gestellt ist und nicht aus eigenem Recht und eigener Macht und eigener Zuständigkeit Innerlichstes anrühren und ummodeln wollt.

Das ist der Sinn unserer Feste, wenn wir Allerheiligen feiern und diese große Idee vom Menschen haben und uns zu ihr bekennen, dass wir uns zum Menschen bekennen. Das wird eine Entscheidungsfrage sein, ob wir Christen fähig und willens sind, uns schützend nicht nur vor den Christen, sondern vor die Kreatur zu stellen. Der Christ stirbt mit dem Menschen und alles stirbt mit dem Menschen. Der Mensch ist das, was Gott als sein Ebenbild ins Leben entlassen hat und dem er verheißen hat: Der Lohn wird groß sein und herrlich im Himmel.” (Predigt 1941)

Sie sehen, was ich meine: Da hält sich einer nicht mit Details und Klein Klein auf: „Das wird eine Entscheidungsfrage sein, ob wir Christen fähig und willens sind, uns schützend nicht nur vor den Christen, sondern vor die Kreatur zu stellen. Der Christ stirbt mit dem Menschen und alles stirbt mit dem Menschen.“

Sind wir Christen fähig und willens, uns nicht nur vor den Christen, sondern vor die Kreatur zu stellen? Und was heißt das? Eine große Frage für eine kurze Predigt… Aber zwei Punkte vielleicht, die mich dazu umtreiben: Den ersten spricht Delp selber an: Wir leben in einer Welt und Zeit, in der wir es gewohnt sind, uns die Dinge „verfügbar“ zu machen, planbar, selbstbestimmt gestaltbar und entscheidbar. Und das ist ein riesiger gesellschaftlicher Fortschritt. Wir können unser Leben in einem Maße frei und selbstbestimmt gestalten, wie das wahrscheinlich noch in keiner Zeit vor uns der Fall war. Kehrseite der Medaille: Man muss sich über die Grenzen dieser Verfügbarkeit des Lebens Gedanken machen: Wir laufen Gefahr, dass wir aus eigenem Recht und eigener Zuständigkeit Innerlichstes anrühren und ummodeln wollen – manchmal habe ich den Eindruck, wir haben uns so an diese „Verfügbarkeit“ des Lebens gewöhnt, dass uns ab und an ein wenig die „heilige Scheu“ vor dem Leben verloren gegangen ist. Das Gespür dafür, dass es Grenzen des Machbaren gibt und einen Bereich des Unverfügbaren. Dazu werden uns in den nächsten Jahren noch heiße gesellschaftspolitische Debatten ins Haus stehen, vor allem mit Blick auf unseren Umgang mit den Menschen vor und nach dem Zenith ihrer Leistungsfähigkeit: ganz am Anfang und ganz am Ende des Lebens. Wir sind dann aufgefordert, uns vor den Menschen, vor die Kreatur zu stellen. Dabei ist klar: Einfaches, plumpes Schwarz-Weiß-Denken führt bei all den ethisch heiklen Fragen nicht weiter – aber wir sollten in jedem Fall das Gespür dafür wachhalten, dass es mit Blick auf den Menschen Grenzen des Verfügbaren gibt – um der Würde des Menschen willen.

Und das führt zu einem zweiten Punkt: Und der ist letztlich in der Struktur der Seligpreisungen selber angelegt. Denn die offenbart eine ganz wesentliche, vielleicht DIE wesentliche Einsicht unseres Glaubens: Die Seligpreisungen sind im Indikativ formuliert, es sind Aussagesätze: Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden. Da steht nicht: Wenn ihr nur Lage genug tapfer Leid aushaltet, dann könnts was werden mit der Seligkeit… Nein Selig SIND, die Leid tragen… Oder auf einen Satz gebracht: Egal, was euch im Leben auch widerfährt, egal wie armselig oder tragisch oder sogar lächerlich das in den Augen der Welt manchmal wirken mag: ihr seid im Letzten selig, glücklich. Und zwar aus genau einem Grund: Weil ihr den Wert eures Lebens nicht aus den mal besseren oder mal schlechteren Umständen zieht, unter denen ihr es lebt und manchmal auch ertragen müsst. Und weil für den Wert eures Lebens auch nicht die Bewertung anderer ausschlaggebend ist. Sondern weil für den Wert eures Lebens, für Eure Seligkeit am Ende ein anderer bürgt und garantiert. Einer der euch trägt und hält vor jeder Leistung und trotz aller Schuld! Und vielleicht ist das die knappste Zusammenfassung des Evangeliums überhaupt: Geliebt, gehalten vor jeder Leistung und trotz aller Schuld. Das ist eine Einsicht, die unheimlich frei macht – und mutig. Sich vor den Menschen und vor die Kreatur stellen hieße dann vielleicht ihm zu sagen: Du hast einen unendlichen Wert vor jeder Leistung und trotz aller Schuld – und diesen Wert kannst du dir weder selber machen, noch jemals verlieren. Und er bleibt dir – und zwar durch alle Aufs und Abs dieser Welt und deines Lebens – für ewig. Vielleicht war das die zentrale Einsicht, die auch Luther umgetrieben hat. Ich glaube in jedem Fall er hat diese Freiheit gemeint, als er von der Freiheit des Christenmenschen gesprochen hat.

Nochmals kurz zurück zu Alfred Delp: Im Nachgang zum Stauffenberg-Attentat sind die Kreisauer aufgeflogen. Delp wurde in Berlin-Tegel inhaftiert und musste dort auf seinen Schauprozess vor Roland Freissler am sog. „Volksgerichtshof“ warten. Und auf den Tod am Galgen in der Hinrichtungsstätte Plötzensee. Er hat in dieser Zeit mit gefesselten Händen viel geschrieben – Gott sei Dank ist es gelungen, viele seiner Texte aus dem Gefängnis zu schmuggeln. Ich kann Ihnen nur empfehlen, das einmal zu lesen. Denn sie zeigen vor allem eines: bei allem Ringen mit dieser furchtbaren Situation, bei aller Angst vor dem was kommt, ist da ein Mensch innerlich unheimlich frei, obwohl er im Knast in Ketten sitzt. Und er spürt, dass sein Leben einen unheimlichen Sinn und Wert hat – auch wenn die äußeren Umstände eine andere Sprache zu sprechen scheinen. Er selbst hat das  kurz vor seiner Hinrichtung so formuliert: „Wer nicht in einer Atmosphäre der Freiheit zuhause ist, die unantastbar und unberührbar bleibt, allen äußeren Mächten und Zuständen zum Trotz, der ist verloren. […] Die Geburtsstunde der menschlichen Freiheit ist die Stunde der Begegnung mit Gott. […] Die freie und vorbehaltlose Begegnung mit dem Herrgott erst gibt dem Menschen seinen eigenen Raum.“ Intensiver kann man den Geist der Seligpreisungen vielleicht nicht zusammenfassen. Ich nehme an, das hätte auch Luther unterschrieben – weil es nämlich ums Wesentliche geht, das wir als Christen dieser Welt schulden, mehr denn je. Gebe Gott, dass wir es ihr nicht schuldig bleiben. Amen.

Simon Menth, Biberach

Hier der Text als pdf.

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