Landeskirche

Evangelische Kirche in Bayern (19./20. Jahrhundert)

von Hans-Peter Hübner

Durch die territoriale Neugliederung Deutschlands zwischen 1803 und 1815 wurde das Königreich Bayern ein gemischtkonfessioneller Staat. Oberhaupt der evangelischen Christen war bis 1918 der katholische König, der seine kirchenleitenden Befugnisse über die Konsistorien ausübte. Im Laufe des 19. Jahrhunderts verstärkte sich im rechtsrheinischen Bayern unter dem Einfluss der Erweckungsbewegung das lutherische Konfessionsbewusstsein, was 1848 zur organisatorischen Loslösung der Pfälzischen Kirche führte. Nach 1918 erreichte die evangelische Kirche ihre Selbständigkeit gegenüber dem Staat, mit dem 1924/25 die Beziehungen neu geregelt wurden. Die kirchlichen Organisationsstrukturen blieben jedoch weitgehend bestehen, allerdings unter Stärkung der synodalen Elemente. Neues Kirchenoberhaupt wurde 1920 der Kirchenpräsident, ab 1933 der Landesbischof. Zwischen 1933 und 1945 konnte die bayerische Landeskirche ihre Gleichschaltung verhindern und ihre Selbständigkeit wahren. Durch Flucht und Vertreibung nahm nach 1945 die Zahl der evangelischen Christen in Bayern deutlich zu, nun auch in katholischen Gebieten. In der Nachkriegszeit wurden daher auch die Bildungseinrichtungen stark ausgebaut, doch mussten wegen des tendenziell rückläufigen Kirchensteueraufkommens in jüngster Zeit Sparmaßnahmen getroffen werden.

 

Gebiet

Von wenigen früher hinzugekommenen Gebieten abgesehen (Grafschaft Sulzbürg-Pyrbaum 1740, Herzogtum Neuburg mit Sulzbach 1777, Pflegeämter Velden und Hersbruck 1792) war das Kurfürstentum Bayern bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts ein rein katholisches Land. Dies änderte sich erst, als Bayern infolge des Friedens von Lunéville (1801) und des Reichsdeputationshauptschlusses (1803) u. a. die Reichsstädte Kaufbeuren, Kempten, Memmingen, Nördlingen, Rothenburg ob der Tauber, Schweinfurt, Dinkelsbühl, Weißenburg und Windsheim erhielt. 1805 folgten aufgrund des Friedens von Preßburg die beiden Reichsstädte Augsburg und Lindau, außerdem die evangelische Grafschaft Ortenburg in Niederbayern. 1806 wurde das seit 1791 preußische Markgraftum Ansbach von Frankreich an Bayern weitergegeben und die Reichsstadt Nürnberg mit verschiedenen weiteren fränkischen und schwäbischen evangelischen Herrschaftsgebieten, insbesondere den Grafschaften Oettingen-Oettingen, Schwarzenberg, Hohenlohe-Schillingsfürst, Castell, Pappenheim und Thüngen, eingegliedert. Den – bis zum Anschluss des Freistaates Coburg an Bayern 1920 – vorläufigen Abschluss bildeten 1810 das Markgraftum Bayreuth und die evangelische Reichsstadt Regensburg, 1814 jeweils mit evangelischer Diaspora das Großherzogtum Würzburg und das Fürstentum Aschaffenburg sowie 1816 die gemischtkonfessionelle Rheinpfalz.

 

Katholischer König als „Summus Episcopus“ der evangelischen Christen in Bayern

Diese Entwicklungen bewirkten, dass der katholische Landesherr nicht nur entsprechend der damals vorherrschenden, aus der Territorialgewalt begründeten Auffassung von der Oberhoheit des Staates über die Kirchen (Territorialismus) die äußere Aufsicht über das evangelischen Kirchenwesen (die Kirchenhoheit) übernahm, sondern unter dem Titel des landesherrlichen Kirchenregiments zusätzlich auch in den inneren Kirchenangelegenheiten zum „obersten Bischof“ seiner evangelischen Untertanen wurde (Summepiskopat). 1816 gab es im rechtsrheinischen Bayern bei einer Gesamtbevölkerung von 3,16 Mio. Einwohnern rund 752.000 evangelische Christen, die in 774 Pfarreien von 911 Geistlichen seelsorgerlich betreut wurden. Sie lebten schwerpunktmäßig in Ober- und Mittelfranken sowie in Schwaben.

 

Bürgerliche Gleichstellung der Evangelischen unter Montgelas

Die Eingliederung der insgesamt ca. 90 evangelischen Territorien unter dem Kurfürsten und späteren König Max IV. (I.) Joseph (1756-1825, in Bayern 1799-1825) und seinem leitenden Minister Maximilian Joseph von Montgelas (1759-1838) erfolgte im Kontext der aufklärerischen Zielstellung, Bayern zu einem modernen, dem Gedanken der Toleranz verpflichteten und zugleich zentralistischen Staat zu formen. Dies bedingte die rechtliche Gleichstellung der verschiedenen Konfessionen.

Wichtige Marksteine auf diesem Weg waren die Amberger Resolution vom 10. November 1800 und das Toleranzedikt vom 26. August 1801. Letzteres bildete insbesondere die Grundlage dafür, dass sich im Zusammenhang mit den Moorkultivierungen im Donaumoos und in den Moorgründen zwischen Dachau und Freising (Kemmoden, Oberallershausen) sowie im Raum von Rosenheim (Großkarolinenfeld), ferner auch auf der Münchner Ebene (Feldkirchen) nichtkatholische Kolonisten mit vollen Bürgerrechten ansiedeln konnten.

In umfassendem Sinne garantierte das Religionsedikt vom 10. Januar 1803, bestätigt durch das Religionsedikt vom 24. März 1809 und das damit weitgehend inhaltsgleiche Religionsedikt vom 26. Mai 1818 , die bürgerliche Gleichberechtigung der drei durch den Westfälischen Frieden anerkannten christlichen Konfessionen (römisch-katholisch, lutherisch und reformiert). Diese hatte insofern auch ganz pragmatische Motive, als man sich von der Niederlassung anders-konfessioneller Kolonisten und Kaufleute wichtige wirtschaftliche Impulse versprach.

 

Kirchliche Organistaions- und Leitungsstrukturen im Königreich Bayern

a) Staatskirchentum bis 1817

Ganz im Sinne der territorialistischen Staatslehre wirkten Montgelas und sein in Kirchenangelegenheiten federführender Mitarbeiter Georg Friedrich von Zentner (1752-1835) darauf hin, eine mit den Staatsgrenzen übereinstimmende und dem staatlichen vierstufigen Verwaltungsaufbau entsprechende evangelische Kirchenorganisation herzustellen.

Unter Auflösung der örtlichen Konsistorien wurden deshalb zunächst fünf Konsistorien (München, Ansbach, Ulm, Amberg und Bamberg) gebildet, die bei den staatlichen Mittelbehörden (Landesdirektionen) angegliedert und ab 1808 der beim Innenministerium gebildeten Sektion in Kirchenangelegenheiten unterstellt wurden; diese fungierte zugleich als Generalkonsistorium. Später wurden die Konsistorien in Generaldekanate umgewandelt und bis 1817 auf zwei mit Sitz in Ansbach und Bayreuth reduziert, wobei das Dekanat München (mit Oberbayern) direkt dem Generalkonsistorium zugeordnet wurde. Für das linksrheinische Bayern entstand das Konsistorium in Speyer.

Als Zwischenstufe zwischen den Pfarrämtern und den Generaldekanaten wurden Dekanate eingeführt, die im Unterschied zu den vorfindlichen Dekanaten bzw. Superintendenturen nicht nur mittlere Aufsichtsbehörden unter der Leitung eines Dekans waren, sondern auch der Zusammenführung der Gemeinden zu einem einheitlichen Kirchenwesen dienten. Diesem Zweck dienten insbesondere die auf dieser Ebene gebildeten „Diözesansynoden“, die in ihrer Zusammensetzung ursprünglich den heutigen Pfarrkonferenzen entsprachen (ab 1851 paritätisches Verhältnis von Geistlichen und weltlichen Abgeordneten). Die rechtliche Grundlage für diese Strukturen bildete die inhaltlich ganz wesentlich auf den Theologen Friedrich Immanuel Niethammer (1766-1848) zurückgehende Konsistorialordnung vom 8. September 1809. Die Konsistorialordnung gilt als erste Verfassung der zunächst als „Protestantische Gesamtgemeinde“ und dann durch königliche Entschließung vom 28. Oktober 1824 als „Protestantische Kirche“ bezeichneten bayerischen Landeskirche.

b) Begrenzte Eigenständigkeit ab 1818

Die Konsistorialordnung wurde durch das Protestantenedikt abgelöst, welches neben dem Religionsedikt der Verfassungsurkunde für das Königreich Bayern vom 26. Mai 1818 als Beilage angefügt war. Das Protestantenedikt bewirkte insofern eine begrenzte kirchliche Eigenständigkeit, als es das dem König zustehende „oberste Episkopat und die daraus hervorgehende Leitung der protestantischen inneren Kirchenangelegenheiten“ an das als selbständige Behörde konzipierte, wenngleich weiterhin dem Innenministerium unmittelbar untergeordnete Oberkonsistorium mit einem Präsidenten protestantischen Bekenntnisses an der Spitze delegierte.

Die äußeren Kirchenangelegenheiten (wie z.B. das Recht der kirchlichen Liegenschaften und die Besoldung der Geistlichen) verblieben dagegen unmittelbar bei den staatlichen Oberbehörden. Entsprechendes galt für den Zuständigkeitsbereich des Konsistoriums in Speyer und der – anstelle der bisherigen Generaldekanate errichteten – Konsistorien in Ansbach und in Bayreuth.

c) Entwicklung synodaler Elemente

Außerdem wurden auf der Ebene der Konsistorien zur Beratung über die inneren Kirchenangelegenheiten allgemeine Synoden eingeführt, die alle vier Jahre zusammen traten und 1849 erstmalig (seit 1881 ständig) als Vereinigte Generalsynode für die Bezirke Ansbach und Bayreuth und in paritätischer Zusammensetzung von „Laien“ und Geistlichen tagten. Die Kompetenzen der Synode wurden 1881 insofern grundlegend erweitert, als sie anstelle ihrer bisher nur beratenden Funktion nun ein Zustimmungsrecht erhielt für alle „allgemeinen und bzw. neuen organischen kirchlichen Einrichtungen und Verordnungen, welche sich auf Lehre, Liturgie, Kirchenordnung und Kirchenverfassung beziehen.“

Als zweites synodales Organ kam schließlich 1887 der paritätisch mit je vier Geistlichen und Weltlichen besetzte Generalsynodalausschuss hinzu, der in allen wichtigen Kirchenangelegenheiten mit seinem „ratsamen Gutachten“ zu hören war.

d) Die Kirchengemeinden

Auf der Ebene der Kirchengemeinden gab es zwei Leitungsorgane, die 1834 für Verwaltungsangelegenheiten geschaffenen Kirchenverwaltungen und die 1849 allgemein eingeführten Kirchenvorstände für die das geistliche und religiöse Leben der Gemeinden betreffenden Angelegenheiten. Die staatliche Kirchengemeindeordnung vom 24. September 1912 (GVB. S. 911) verlieh den Kirchengemeinden nun auch rechtsförmlich die Eigenschaft eigenständiger Rechtspersönlichkeiten und erlaubte in den Städten mit mehreren Kirchengemeinden die Bildung von Gesamtkirchengemeinden.

e) Kirchensteuergesetz von 1912 als Wegbereiter der Unabhängigkeit

Der Weg in die äußere Unabhängigkeit wurde vorbereitet durch das staatliche Kirchensteuergesetz vom 15. August 1908 (GVBl. 1910 S. 149), welches den protestantischen Kirchen anstelle der – durch die Säkularisierung von Kirchengut sowie durch die Grundlastenablösung und Zehntaufhebung von 1848 bedingten – bisherigen unmittelbaren staatlichen Finanzierung die Möglichkeit eröffnete, ihren Bedarf durch die Beiträge ihrer Mitglieder zu decken.

 

Kirchliche Erneuerung und Konfessionalisierung

Die innere Entwicklung der bayerischen Landeskirche im 19. Jahrhundert ging mit einer kirchlichen Erneuerung einher, die durch die – ihrerseits vom deutschen Idealismus und dem Erleben der Befreiungskriege geprägte – Erweckungsbewegung ausgelöst wurde. Zum Mittelpunkt dieser Erneuerung wurde die Theologische Fakultät der Universität Erlangen („Erlanger Theologie“)- insbesondere mit den Professoren Adolf (von) Harless (1806-1879; später Präsident des Oberkonsistoriums), Johann Wilhelm Höfling (1802-1853), Gottfried Thomasius (1802-1875) und Johann Konrad (von) Hofmann (1810-1877).

Innerevangelische konfessionelle Unterschiede spielten dabei anfangs kaum eine Rolle. In der Folgezeit kam es jedoch in Abgrenzung zur evangelischen Unionsbewegung, die in der Pfalz – ebenso wie in Baden – nicht nur zu einer verwaltungsmäßigen (so in Preußen), sondern zu einer bekenntnismäßigen Vereinigung von Lutheranern und Reformierten geführt hatte, im rechtsrheinischen Bayern zu einer betont lutherischen Profilierung. Daran hatte vor allem der Neuendettelsauer Pfarrer und Begründer der dortigen Diakonissen- und Missionsanstalten Wilhelm Löhe (1808-1872) einen wesentlichen Anteil.

Diese Entwicklungen bewirkten, dass 1849 der Konsistorialbezirk Speyer auf Antrag der dortigen Generalsynode aus dem Zuständigkeitsbereich des Oberkonsistoriums ausgegliedert und dem neu gebildeten Kultusministerium als „Vereinigte Protestantische Kirche der Pfalz“ direkt unterstellt wurde und die reformierten Gemeinden im rechtsrheinischen Bayern zwar im Verband der rechtsrheinischen (lutherischen) protestantischen Kirche verblieben, ihnen aber 1853 die Bildung einer eigenen Synode und die Wahl einer eigenen geistlichen Kirchenleitung (Moderamen) zugestanden wurde (die endgültige Trennung der bayerischen reformierten Kirche von der lutherischen Kirche erfolgte 1920).

 

Kirchliche Neuordnung nach 1918

Nach dem Ende der Monarchie nahm zunächst das Kultusministerium, ab 1919 infolge der durch die Weimarer Verfassung verfügten organisatorischen Trennung von Staat und Kirche (Art. 137 Abs. 1 WRV) das Oberkonsistorium die aus dem Summepiskopat folgenden Rechte wahr, die bisher dem König zugestanden hatten. Die „Verfassung der evangelisch-lutherischen Kirche in Bayern r. d. Rhs.“ vom 16. September 1920, die am 1. Januar 1921 in Kraft trat, wies die Kirchenleitung vier Organen zu: Landessynode und Landessynodalausschuss knüpften dabei mit freilich jetzt viel weitergehenden Kompetenzen an die bisherigen synodalen Organe an. Demgegenüber war der hinzutretende bischöfliche Amtsträger – der vormalige Präsident des OberkonsistoriumsFriedrich Veit (1861-1948) mit der Bezeichnung „Kirchenpräsident“ – als weiteres Leitungsorgan eine Neuschöpfung. Dem darin zum Ausdruck kommenden Wunsche der verfassungsgebenden Synode, die Leitung der Landeskirche nicht allein gremienmäßig und kollegial, sondern mehr persönlich „bischöflich“ auszugestalten, entsprach auch die Einteilung in die zunächst drei Kirchenkreise Ansbach, Bayreuth und München mit einem „Kreisdekan“ an der Spitze (seit 2000 stattdessen als „Oberkirchenrat im Kirchenkreis“ bzw. „Regionalbischof“ bezeichnet), zu denen 1935 Nürnberg, 1951 Regensburg und 1971 Augsburg hinzukamen.

Entsprechend der heute geltenden Regelung bildeten Kirchenpräsident und Kreisdekane gemeinsam mit jeweils drei weiteren geistlichen und weltlichen Oberkirchenräten unter dem Vorsitz des Kirchenpräsidenten den Landeskirchenrat, der als oberste Behörde für die Verwaltung der Landeskirche an die Stelle des Oberkonsistoriums trat und zu dessen Sitz 1927 endgültig München bestimmt wurde.

Da die Gliederung in Kirchengemeinden und Dekanatsbezirke bestehen blieb, konnte die neue Kirchenverfassung im Übrigen in vielem an bisher gewachsene Strukturen anknüpfen. Neu war allerdings, dass der Dekanatsbezirk nicht nur eine Verwaltungs- und Aufsichtsebene mit dem Dekan an der Spitze war, sondern die in ihm zusammengeschlossenen Kirchengemeinden einen Kirchenbezirk mit eigener Rechtspersönlichkeit bildeten, der von Bezirkssynode und Bezirkssynodalausschuss repräsentiert wurde.

Entsprechend dem mit der römisch-katholischen Kirche geschlossenen Konkordat wurden 1924/25 in Ausführung der Bestimmungen der Weimarer Reichsverfassung und der Bayerischen Verfassung vom 14. August 1919 die Beziehungen zum Freistaat Bayern durch Verträge mit der evangelischen Kirche rechts des Rheins und der Pfälzer Kirche geregelt.

 

Evangelische Kirche im „Dritten Reich“

Die nationalsozialistische „Machtergreifung“ am 30. Januar in Deutschland bzw. am 9. März 1933 in Bayern bewirkte, dass der dezidiert gegen die nationalsozialistische Bewegung eingestellte Kirchenpräsident Friedrich Veit von maßgeblichen Gremien und Persönlichkeiten zum Rücktritt gedrängt und der bisherige Oberkirchenrat Hans Meiser (1881-1956) bei der außerordentlichen Tagung der Landessynode vom 3. bis 5. Mai 1933 zu seinem Nachfolger gewählt wurde. Zugleich führte die Landessynode die Amtsbezeichnung „Landesbischof“ ein und verabschiedete ein (1946 wieder aufgehobenes) „Ermächtigungsgesetz“, das diesen – in Anlehnung an staatliche Ermächtigungsgesetze – ermächtigte, Kirchengesetze – anstelle der Landessynode – nach Anhörung des Landessynodalausschusses zu erlassen. Damit war allerdings nicht – wie in anderen evangelischen Landeskirchen – die schlichte Übernahme des Führerprinzips im Bereich der Kirche bezweckt; vielmehr sollte insbesondere für die Vertretung nach außen die volle Handlungsfähigkeit der Kirchenleitung sichergestellt werden.

Die bayerische Landeskirche blieb – als einzige evangelische Landeskirche neben Hannover und Württemberg – im „Kirchenkampf“ dank Meisers entschlossener Abwehrhaltung und dank der Loyalität der weitaus überwiegenden Zahl der bayerischen Pfarrer (1933 waren 57 von ca. 1400 Pfarrern Mitglieder der NSDAP) und Gemeinden bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges intakt. Versuche der nationalsozialistisch orientierten Kirchenpartei der „Deutschen Christen“ (DC), die Kirche durch die Eingliederung in die „Reichskirche“ unter dem DC-Bischof Ludwig Müller (1883-1945) gleichzuschalten, blieben erfolglos. Die Auseinandersetzungen in Bayern gipfelten im Oktober 1934 in der zeitweiligen Arretierung Meisers.

Allerdings wurde Meiser und der bayerischen Kirchenleitung nach 1945 vorgeworfen, dass ihnen in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft die Erhaltung der Kirche als Institution wichtiger gewesen sei als eine eindeutige Distanzierung vom Nationalsozialismus und das entschiedene öffentliche Eintreten für die Verfolgten und Unterdrückten.

 

Kirchliche Entwicklung nach 1945

Aufgrund der 1946 erfolgten Zuordnung der Rheinpfalz zum Land Rheinland-Pfalz entfiel nach 1945 der Zusatz rechts des Rheins, die Kirche führt seitdem den Namen „Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern“. Die Entwicklung nach 1945 war gekennzeichnet durch die Eingliederung von ca. 700.000 evangelischen Heimatvertriebenen, die zum großen Teil gerade in den bis dahin nahezu rein katholischen Gebieten Niederbayerns und der Oberpfalz ansässig wurden, desgleichen viele Katholiken in bisher rein protestantischen Gebieten. Ferner wurden zahlreiche evangelische Aus- und Erwachsenenbildungseinrichtungen gegründet und ausgebaut:

  • Pastoralkolleg in Neuendettelsau 1946
  • Augustana-Hochschule Neuendettelsau 1947
  • Evangelische Fachhochschule Nürnberg 1994/95 unter Aufnahme des bisherigen Fachhochschulstudienganges für Religionspädagogik und kirchliche Bildungsarbeit Neuendettelsau/München-Pasing 1972 und der Stiftungsfachhochschule für Sozialwesen Nürnberg 1971 und unter Errichtung des weiteren Fachbereiches Pflegemanagement
  • Evangelische Akademie Tutzing 1947/50
  • Heimvolkshochschule Hesselberg 1949
  • Heimvolkshochschule Pappenheim 1953
  • Heimvolkshochschule Bad Alexandersbad 1958
  • Evangelisch-Theologische Fakultät an der Universität München 1967

1958 erhielten Frauen das passive Wahlrecht auch für die Landessynode, das ihnen 1920 nur für die Wahl in den Kirchenvorstand zugestanden worden war. Langwierig war der Weg theologisch ausgebildeter Frauen in das Gemeindepfarramt: seit 1944 konnten sie ausschließlich als Vikarinnen in der Seelsorge an Frauen, Mädchen und Kindern eingesetzt werden; 1970 erhielten sie für ihren Dienstbereich das Recht der Sakramentsverwaltung; erst 1975 – und damit im Vergleich zu der Mehrzahl anderer deutscher evangelischer Landeskirchen relativ spät – wurden Theologinnen schließlich in vollem Umfang zu Ordination und Pfarramt zugelassen.

 

Neue Kirchenverfassung 1972/1999

Am 1. Januar 1972 trat die Kirchenverfassung vom 10. September 1971 in Kraft, die neue Akzente vor allem in den Abschnitten über die Kirchengliedschaft, das Amt des Pfarrers im Verhältnis zu den anderen kirchlichen Mitarbeitern, den Dekanatsbezirk als eigenständige „mittlere Ebene“, die besonderen Arbeitsbereiche und Arbeitsformen und in der Beschreibung des Amtes des Landesbischofs setzte, im Übrigen aber eine behutsame Fortentwicklung der Verfassung von 1920 darstellte.

Eine umfassende Überprüfung der Verfassungsstrukturen in den 1990er Jahren führte zur Novelle der Kirchenverfassung vom 6. Dezember 1999, die mit Wirkung vom 1. Januar 2000 u. a. eine Neuordnung des kirchlichen Mitgliedschaftsrechts, die Ermöglichung des – seit 1993 bereits erprobungsweise zugelassenen – Laienvorsitzes im Kirchenvorstand, die Einführung der Amtsbezeichnung „Regionalbischof/Regionalbischöfin“ für die bisherigen Kreisdekane und die Einführung einer Amtszeitbegrenzung für den Landesbischof (einmalige Wahl für 12 Jahre) und die weiteren Mitglieder des Landeskirchenrates (Wahl für zehn Jahre mit der Möglichkeit der Wiederwahl) beinhaltete.

 

Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern heute

Zur Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern gehören heute ca. 2,7 Mio. Gemeindeglieder in 1.531 Kirchengemeinden und 68 Dekanatsbezirken, welche von ca. 2.870 Pfarrern und Pfarrerinnen (davon ca. 1/3 Pfarrerinnen) betreut werden. Darüber hinaus beschäftigen die Landeskirche mit ihren Körperschaften ca. 19.000 und die Mitgliedseinrichtungen des Diakonischen Werkes der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern e. V. ca. weitere 20.000 Mitarbeiter. Im wesentlichen durch Zuzüge bedingt, ist der Mitgliederbestand der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern insgesamt im Unterschied zur Situation in den evangelischen Landeskirchen vor allem im Norden und im Osten Deutschlands relativ stabil, wobei jedoch Veränderungen zu Lasten der nördlichen und zugunsten der südlichen Kirchenkreise feststellbar sind. Diese Veränderungen und das seit Mitte der 1990er Jahre des letzten Jahrhunderts tendenziell rückläufige Kirchensteueraufkommen machen auch im Bereich der bayerischen Evangelisch-Lutherischen Kirche Konsolidierungsmaßnahmen erforderlich.

Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern ist Gliedkirche der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) und der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD); außerdem gehört sie dem Lutherischen Weltbund und dem Ökumenischen Rat der Kirchen an. In der Nachfolge der Landesbischöfe Hans Meiser (1933-1955), Hermann Dietzfelbinger (1955-1975), Johannes Hanselmann (1975-1994) und Hermann von Loewenich (1994-1999) steht seit 1999 Johannes Friedrich (*1948) an der Spitze der Landeskirche.

 

Kirchenpräsidenten und Landesbischöfe

Name Lebenszeiten Amtszeit Bemerkung
Friedrich Veit 1861-1948 1920-1933 Kirchenpräsident, zuvor Präsident des Oberkonsistoriums
Hans Meiser 1881-1956 1933-1955 Landesbischof
Hermann Dietzfelbinger 1908-1984 1955-1975 Landesbischof
Johannes Hanselmann 1927-1999 1975-1994 Landesbischof
Hermann von Loewenich 1931-2008 1994-1999 Landesbischof
Johannes Friedrich * 1948 seit 1999 Landesbischof

 

Literatur

  • Helmut Baier, Kirche in Not – Die bayerische Landeskirche im zweiten Weltkrieg, Neustadt an der Aisch 1979.
  • Karlmann Beyschlag, Die Erlanger Theologie, Erlangen 1993.
  • Karl Eduard Haas, die Evangelisch-Reformierte Kirche in Bayern. Ihr Wesen und ihre Geschichte, Neustadt an der Aisch 1970.
  • Günter Henke, Die Anfänge der Evangelischen Kirche in Bayern. Friedrich Immanuel Niethammer und die Entstehung der Prot. Gesamtkirchengemeinde, München 1974.
  • Ernst Henn, Führungswechsel, Ermächtigungsgesetz und das Ringen um eine neue Synode im bayerischen Kirchenkampf, in: Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte 43 (1974), 325-443.
  • Gerhart Herold/Carsten Nicolaisen, Hans Meiser (1881-1956) – Ein lutherischer Bischof im Wandel der Systeme, München 2006.
  • Werner Hofmann, Die neue Verfassung der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, in: Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht 18 (1973), 1-21.
  • Hans-Peter Hübner, Neue Entwicklungen im Verfassungsrecht der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, in: H. de Wall/M. Germann (Hg.), Festschrift für Christoph Link, Tübingen 2003, 89-110.
  • Hugo Maser, Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern rechts des Rheins zur Zeit der Weimarer Republik, München 1990.
  • Björn Mensing, Pfarrer im Nationalsozialismus. Geschichte einer Verstrickung am Beispiel der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, Göttingen 1998.
  • Gerhard Müller/Horst Weigelt/Wolfgang Zorn (Hg.), Handbuch der Geschichte der Evangelischen Kirche in Bayern. Zweiter Band. 1800-2000, Sankt Ottilien 2000.
  • Claus-Jürgen Roepke, Die Protestanten in Bayern, München 1972.

Quellen:

  • Amtsblatt der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern (KABl.)
  • Verhandlungen der Landessynode der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern.
  • Bayerisches Gesetz-und Verordnungsblatt (GVBl.)

 

Empfohlene Zitierweise:

Hans-Peter Hübner, Evangelische Kirche (19./20. Jahrhundert), in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: <http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/artikel/artikel_44524> (14.10.2009)